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Vielschichtige Krankheit mit einschneidenden Folgen

Eine der komplexesten psychischen Krankheiten ist die Schizophrenie. Sie zählt zu den Spezialgebieten
von Prof. Dr. med. Thomas J. Müller. Im Gespräch äussert sich der neue ärztliche Direktor der Privatklinik
Meiringen über Behandlungsansätze, über den Umgang mit Betroffenen und über sein persönliches
Berufungserlebnis.

Prof. Dr. med. Thomas J. Müller im Interview

Wenn jemand widersprüchlich redet oder handelt, dann ist heute rasch das Etikett «schizophren» zur Hand. Der Begriff scheint aus der Sphäre der Wissenschaft ins Allgemeingut übergetreten zu sein. Wie beurteilen Sie dies aus medizinischer Sicht?

Prof. Dr. med. Thomas J. Müller: Ich begrüsse das nicht. Schizophrenie ist eine schwere Krankheit, die bei Betroffenen zu massiven Beeinträchtigungen führen kann. Während Jahrzehnten habe ich mich gründlich mit verschiedenen Facetten dieses Leidens befasst. Deshalb ärgert mich die unbesonnene Verwendung des Begriffs. Ich finde es inakzeptabel, wenn beispielsweise politischen Gegnern vorgeworfen wird, sie seien «schizophren».

Man könnte einwenden, die Krankheit werde dadurch öffentlich thematisiert.

Darum geht es leider gerade nicht. Wer so spricht, denkt gar nicht an die Krankheit, erreicht aber im Endeffekt, dass das Leiden nur noch zusätzlich stigmatisiert wird. Zudem wird dadurch ein pseudomedizinisches Fachwissen vorgegaukelt, das an den Tatsachen vorbeizielt.

Inwiefern?

Landläufig wird Schizophrenie immer wieder mit einer Spaltung des Bewusstseins gleichgesetzt. Es verhält sich jedoch anders. Bei Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, ist das Bewusstsein intakt und ungeteilt. Aus psychiatrischer Sicht liegt bei ihnen vielmehr eine Spaltung der Assoziationsfäden vor. Sie äussert sich in komplexen Störungen des psychischen Netzwerks.

Wo setzt die Behandlung an?

Heute stehen uns verschiedene Medikamente zur Verfügung, mit denen sich akute Störungen, die im Rahmen des schizophrenen Krankheitsbilds auftreten, gut behandeln lassen. Die Grenzen der Medikation zeigen sich bei chronischer Schizophrenie; dort rücken sogenannte Negativsymptome in den Vordergrund – das Mangeln oder Fehlen von Antriebskraft, emotionalen Regungen, Kontaktfähigkeit, Genussempfinden etc. Diese dauerhafte Form der Schizophrenie kann leider nach wie vor nicht medikamentös behandelt werden.

Was für Behandlungsansätze kommen stattdessen in Frage?

Da gibt es im Wesentlichen zwei Säulen, die in der modernen Psychiatrie ohnehin bedeutend sind. Einerseits wird versucht, mittels spezifisch auf Schizophrenie abgestimmter Psychotherapie die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Andererseits sollen die erkrankten Personen mittels gemeindenaher Angebote aus ihrer Situation herausgeholt und
mit anderen Menschen verknüpft werden. Allein dies stellt schon einen riesigen Fortschritt gegenüber früheren Praktiken dar. Bis vor wenigen Jahrzehnten war es auch in Europa üblich, Schizophrenie-Patientinnen und -Patienten einfach wegzusperren.

Sie haben erwähnt, sich bereits zu Beginn Ihrer Berufslaufbahn eingehend mit dem Thema Schizophrenie beschäftigt zu haben. Wie kamen Sie dazu?

Ich war schon sehr früh an Fragen rund um die menschliche Psyche interessiert. Bereits mein Grossvater war Arzt; er hat die Fachzeitschrift «Die medizinische Welt» jahrgangsweise zu Sammelbänden binden lassen. Diese Bücher standen bei uns zu Hause; schon als Kind
stöberte ich immer wieder darin. Auf diese Weise entdeckte ich unter anderem, dass es erst in den 1950er-Jahren – also wenige Jahre vor meiner Geburt – erfolgreiche Ansätze gab, Psychosen medikamentös zu behandeln. Was uns heute als selbstverständlich erscheint, ist eigentlich
eine vergleichsweise junge Errungenschaft.

Während Ihre Schulkollegen Winnetou lasen, entschlossen Sie sich, Psychiater zu werden?

Dieser Entscheid kam später. Als ich mein Medizinstudium begann, wollte ich Radiologe werden. Gleichzeitig las ich zu jener Zeit mit grossem Interesse Werke von Fromm, Jung und Watzlawick, die sich mit Themen an der Schnittstelle von Philosophie und Psychologie befassen. Im letzten Semester hatte ich dann gewissermassen ein Berufungserlebnis. Gleich am ersten Tag meines Praktikums an der Universitäts-Nervenklinik Würzburg kam ein Patient auf mich zu und erklärte mir, eine Stimme befehle ihm, er müsse sich für die Stadt opfern. Ich war unglaublich fasziniert von dieser Begegnung und fragte mich, was in diesem Kopf wohl nur vorgehen mag.

Können Sie diese Faszination näher erläutern?

Schizophrenie ist eine sehr vielschichtige Krankheit mit mannigfaltiger Symptomatik. Für einen gesunden Menschen sind die Erscheinungsbilder, denen die Betroffenen ausgesetzt sind, überaus fremdartig und sozusagen weit entfernt. Ich selbst bin grundsätzlich ein neugieriger Mensch und deshalb offen dafür, mich auf solche Welten einzulassen.

Besteht da nicht ein gewisses Risiko, angesichts des wissenschaftlichen Interesses das Leid der Betroffenen aus den Augen zu verlieren?

Aufgrund meiner gründlichen Auseinandersetzung mit Schizophrenie bin ich mir schon frühzeitig bewusst geworden, dass es sich dabei um eine sehr einschneidende Krankheit handelt, die mit tragischen Auswirkungen verbunden sein kann. Im Extremfall führt sie zum kompletten Verlust des formalen Denkens. Ein solches menschliches Leid beschäftigt auch mich immer wieder.

Jene Begegnung genügte tatsächlich, dass Sie Ihre berufliche Entwicklung auf den Kopf stellten?

Da kamen natürlich noch einige andere Faktoren hinzu. Ein wichtiger Punkt war sicher, dass die Klinik in Würzburg generell spezialisiert war auf die Diagnostik und Behandlung von Schizophrenie. Das hatte auch damit zu tun, dass dort schizophrene Erkrankungen intensiv erforscht wurden. Dies ermöglichte mir, bereits während der Ausbildung, später dann auch im Rahmen der praktischen Tätigkeit selber Forschungsarbeiten durchzuführen. Als Facharzt bin ich breit aufgestellt – ich war in der Allgemeinpsychiatrie ebenso tätig wie in der Alterspsychiatrie, zuletzt auch in der Forensik. Im
Forschungsbereich hingegen habe ich mich auf den Themenkreis der Denk- und Sprechstörungen, Halluzinationen und Bewegungsstörungen konzentriert. Dies hat mich auf all meinen beruflichen Stationen immer wieder eingehend beschäftigt.

Prof. Dr. med. Thomas J. Müller
Ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen
Interview publiziert im Blickpunkt Gesundheit, Ausgabe 1/2017